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Beitrag vom 25.05.2022
Erstmals auch potenziell tödliche Gewalt – weiterhin etwa drei antisemitische Vorfälle in der Bundeshauptstadt
AVIVA-Redaktion
Die Bedrohung durch Antisemitismus bleibt für jüdische Menschen in der Hauptstadt weiterhin hoch: Erneut dokumentierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) über tausend antisemitische Vorfälle innerhalb eines Jahres. Dies geht aus der am 24. Mai 2022 vorgestellten Auswertung "Antisemitische Vorfälle in Berlin 2021" hervor.
Die insgesamt 1.052 dokumentierten Vorfälle umfassten dabei erstmalig auch zwei, die das Projekt als Fälle extremer Gewalt einstufte.
Im Schnitt wurden RIAS Berlin damit erneut knapp drei antisemitische Vorfälle pro Tag bekannt. Wie groß die exakte Zunahme antisemitischer Vorfälle in der Hauptstadt ist, bleibt unscharf, da dem Projekt durch die Berliner Polizei die registrierten antisemitischen Straftaten anders als in den Vorjahren, nicht zur Verfügung gestellt wurden. Wie viele der polizeilich erfassten 422 antisemitischen Straftaten (Stand: Ende April) zu den 1.052 zivilgesellschaftlich dokumentierten Vorfällen hinzukommen, ist daher nicht bekannt.
RIAS Berlin verzeichnete zwei Fälle extremer Gewalt, 22 Angriffe, 43 gezielte Sachbeschädigungen, 28 Bedrohungen, 895 Fälle verletzenden Verhaltens und 62 Massenzuschriften. Diese Vorfalltypen verwendet das Projekt seit 2016 – die zwei Fälle extremer Gewalt 2021 sind die ersten, die RIAS Berlin als solche einstufte. Am 16. August wurde festgestellt, dass auf ein jüdisches Gemeindehaus in Mitte mit einer Gewehr- oder Pistolenkugel geschossen wurde. Getroffen wurde glücklicherweise niemand. Am 25. Oktober schlugen drei Jugendliche in Spandau auf einen nichtjüdischen Mann ein, nachdem sie ihn aufforderten, "Free Palestine" zu rufen und er dem nicht folgte. Der Betroffene wurde mit lebensbedrohlichen Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert.
Physische Angriffe richteten sich auch sonst immer wieder gegen Menschen, die als jüdisch erkennbar waren oder wahrgenommen wurden. Am 30. September beleidigten beim Fußballspiel Union Berlin gegen Maccabi Haifa im Olympiastadion Fans der Heimmannschaft Maccabi-Unterstützer_innen als "Scheiß Juden", stießen sie mit Ellenbogen und hielten einen der Betroffenen an der Jacke fest. Am 8. Oktober sprach eine Person in der Nähe des S-Bahnhofs Nöldnerplatz einen Mann in einem Pullover mit Emblem der israelischen Verteidigungskräfte an und fragte ihn, ob er ein Jude sei. Bevor er antworten konnte, sprühte ihm die Person Reizgas ins Gesicht und stieß ihn zu Boden.
Insgesamt weiß RIAS Berlin von mindestens 292 direkt von antisemitischen Vorfällen betroffenen Personen, 212 waren jüdisch und/oder israelisch oder wurden so wahrgenommen.
Im Verlauf des Jahres 2021 stellte RIAS Berlin auch antisemitische Dynamiken fest. Dabei handelt es sich um Phasen, in denen eine erhöhte Anzahl antisemitischer Vorfälle mit ähnlichem inhaltlichem Bezug durch das Projekt registriert wird. Ein Fünftel, 225 der dokumentierten Vorfälle, ereignete sich im Mai und 145 davon wiesen einen entsprechenden inhaltlichen Bezug auf.. Gleichzeitig hatten 253 Vorfälle einen Bezug zur COVID-19-Pandemie. Wiesen in 2020 jene Vorfälle mehrheitlich antisemitische Verschwörungsmythen bezüglich der Herkunft und der Profiteure des COVID-19-Virus auf, dominierten in 2021 Formen des Post-Schoa-Antisemitismus: Ablehnende Haltungen gegenüber der Impfkampagne wurden in Form von Selbstviktimisierungen, etwa durch das Tragen von "Judensternen" oder Vergleichen mit NS-Verbrechen ausgedrückt. Insgesamt wurden im gesamten Zeitraum bei fast der Hälfte – 47 Prozent – aller Vorfälle Formen des Post-Shoah-Antisemitismus registriert. Es war damit 2021 die häufigste Erscheinungsform des Antisemitismus in der Bundeshauptstadt.
Die vollständige Auswertung kann online eingesehen werden unter: report-antisemitism.de
Stimmen zu der Auswertung "Antisemitische Vorfälle in Berlin 2021":
Benjamin Steinitz, Projektleiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS Berlin):
"Unsere mehrjährigen Erhebungen belegen, dass die Erscheinungsform des Post-Shoa-Antisemitismus signifikanter Bestandteil des antisemitischen Grundrauschens in der Bundeshauptstadt ist. Im Kontext von Vorfällen mit Bezug zur Covid-19-Pandemie und den staatlichen Maßnahmen ist diese Form besonders sichtbar, sie tritt aber auch häufig bei Vorfällen mit Bezug zum israelisch-palästinensischen Konflikt auf. Das zeigt, dass sie politisch besonders sinnstiftend zu sein scheint.
Während wir seit mehreren Jahren eine erschreckende Kontinuität des Antisemitismus dokumentieren, bedeutet die datenschutzrechtlich begründete Auskunftssperre bezüg- lich der in der Polizeistatistik erhobenen Informationen gegenüber der Berliner Zivilge- sellschaft einen Rückschritt für die staatlichen Bemühungen zur Erhellung des Dunkel- felds. Berlin riskiert, seine Vorreiterrolle im Kampf gegen Antisemitismus einzubüßen."
Sigmount Königsberg, Beauftragter gegen Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin:
"Zum ersten Mal seit ihrer Gründung registriert die RIAS Berlin Vorfälle, bei denen das Leben der Angegriffenen potenziell gefährdet wurde, und dass bei über 1.000 antisemitischen Vorfälle in Berlin, darunter eine Vielzahl an Angriffen und Anfeindungen gegen Jüdinnen und Juden. Das sind mindestens drei antisemitische Vorfälle am Tag. Ja: Mindestens. Denn es muss davon ausgegangen werden, dass es noch ein großes Dunkelfeld gibt. Da ist es nicht hilfreich, sondern sogar ein Rückschritt, wenn seitens des Datenschutzbeauftragten die Bereitstellung der Daten durch die Polizei an RIAS Berlin unterbunden wird. Durch diese Sperre lässt sich kein kohärentes Bild antisemitischer Vorfälle darstellen. Vor allem wirkt sie meiner Überzeugung nach in erster Linie zum Schutz der Täter_innen. Es wäre wünschenswert, die Datenübermittlung der Polizei an RIAS Berlin baldmöglichst wieder aufzunehmen."
Samuel Salzborn, Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus:
"Der Jahresbericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) verdeutlich erneut die Wichtigkeit der Arbeit des Projektes: das zivilgesellschaftliche Monitoring antisemitischer Vorfälle ist ein fest etablierter Bestandteil der Erfassung und Dokumentation, der Berliner Ansatz dient mittlerweile in vielen Bundesländern als Vorbild. Zentral an der Arbeit von RIAS Berlin ist, dass antisemitische Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze dokumentiert werden und intensiv an der Schaffung und Erweiterung von Vertrauen bei Menschen gearbeitet wird, die von Antisemitismus betroffen sind. Die auch mit Blick auf 2021 festzustellende Zunahme antisemitischer Vorfälle zeigt einerseits sehr deutlich, dass Antisemitismus immer aggressiver wird und sich oft bei entsprechenden Vorwänden äußert, wie im vergangenen Jahr be- sonders deutlich im verschwörungsideologischen, aber auch antiisraelischen Kontext. Andererseits besteht aber auch die Hoffnung, dass nach vielen Jahren der engagierten Arbeit von RIAS Berlin nach und nach die Meldebereitschaft zunimmt und so das anti- semitische Dunkelfeld langsam etwas heller wird."
Anetta Kahane, Gründerin und Senior Advisor der Amadeu Antonio Stiftung
"Gewiss kann man sagen, dass Antisemitismus zugenommen hat. Das belegen alle bisher verfügbaren Zahlen. Die Corona-Pandemie hat auch zu einer Pandemie antisemitischer Vorfälle geführt. Erst machten sich Verschwörungserzählungen breit, nach denen Personen, meist Juden dafür verantwortlich wären. Dann machten sich die Verschwörungserzähler daran, sich selbst mit den Opfern der Shoa gleichzusetzen, was ebenfalls zynisch und antisemitisch ist. Dazu kommt eine neue Episode im Nahost- Konflikt., die immer auch von einer Dämonisierung oder Angriffen auf die Existenz Israels begleitet wird. Somit ist Antisemitismus insgesamt zu einer Kulturtechnik geworden, derer sich die Leute bedienen, um für alles einen Schuldigen zu finden."
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) wurde im Januar 2015 durch den Verein für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. gegründet. Sie wird gefördert durch das Berliner Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Anti- Diskriminierung und durch die Amadeu Antonio Stiftung. Ziel von RIAS Berlin ist eine zivilgesellschaftliche Erfassung antisemitischer Vorfälle und die Vermittlung von Unterstützungsangeboten an die Betroffenen. RIAS Berlin ist Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.
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Antisemitische Vorfälle auf hohem Niveau – RIAS Berlin stellt Bericht für 2020 vor
Zum zweiten Mal seit 2018 sind der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin über eintausend antisemitische Vorfälle bekannt geworden: Insgesamt 1.004 Fälle dokumentierte RIAS Berlin im Jahr 2020. Der am 19. April 2021 in Berlin vorgestellte Bericht "Antisemitische Vorfälle in Berlin 2020" verzeichnet somit eine Zunahme von 13 % gegenüber 2019.
Quelle: Pressemitteilung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin, 24. Mai 2022